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Kirchenreformen, mehr Ökumene und gesellschaftliches Engagement

Theologinnen und Theologen aus dem Nahen Osten, Österreich und Deutschland berieten bei PRO ORIENTE-Workshop in Wien zentrale Herausforderungen für die Kirchen im Nahen Osten wie auch in Europa

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Innerkirchliche Reformen und eine Erneuerung des theologischen Diskurses, eine Stärkung der ökumenischen Bemühungen und mehr gesellschaftspolitisches Engagement – das sind die Hauptaufgaben, die das Dokument "We Choose Abundant Life" der gleichnamigen Gruppe von Theologinnen und Theologen aus dem Nahen Osten für die Christinnen und Christen in der Region aufzeigt. Die Dringlichkeit dieser Punkte wurde bei einem theologischen Workshop am vergangenen Wochenende in Wien unterstrichen und auch für den europäischen Kontext erörtert.

Die Tagung am 28. und 29. September im Wiener Kardinal-König-Haus stand unter dem Motto "Christians in the Middle East: Challenges and Choices. Intersecting Approaches in Theology and Public Sphere". Organisiert wurde sie von der Stiftung PRO ORIENTE gemeinsam mit der "We Choose Abundant Life"-Gruppe und in Kooperation mit der Deutschen Bischofskonferenz. Gekommen waren Theologinnen und Theologen aus dem Nahen Osten, aus Österreich und Deutschland.

Prof. Gabriel Hachem von der Jesuiten-Universität St. Joseph in Beirut gab in seinem Eröffnungsvortrag einige Impulse zu den zentralen Herausforderungen. Im Blick auf Kirchenreformen sprach sich der Theologe für eine Überwindung einiger Elemente des bestehenden patriarchalen Systems hin zu mehr inklusiver Synodalität aus. In einer solchen Kirche sei jedes Mitglied aufgrund seiner Taufe und seiner Würde als Kind Gottes ein integraler Bestandteil, das mitgestalten könne und solle, und ebenso auch mitentscheiden. Dies bedinge unter Umständen auch eine Reform der Liturgie, so Hachem.

Die Notwendigkeit verstärkter ökumenischer Zusammenarbeit machte der Theologe deutlich, indem er die Ökumene für die Kirchen im Nahen Osten nicht als eine Art ekklesiologischer Kür, sondern als eine Überlebensfrage bezeichnete.

Schließlich erinnerte Hachem an das 2019 von Papst Franziskus und dem ägyptischen Großimam Ahmed al-Tayyeb unterzeichnete Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen, das vor allem auch auf die muslimisch-christlichen Beziehungen abzielt. Dieses Dokument lade zur Reflexion "über unsere christliche Präsenz im Nahen Osten ein und darüber, was Gottes Wille und sein Auftrag für uns in dieser Region und in dieser so schwierigen Zeit hier ist".

Ökumene und Gemeinwohl

Eröffnet wurde die Tagung von PRO ORIENTE-Präsident Alfons M. Kloss, Bischof Werner Freistetter, der in der Österreichischen Bischofskonferenz für weltkirchliche Fragen zuständig ist, und dem Mainzer Weihbischof Udo Bentz, der in der Deutschen Bischofskonferenz für den Nahen Osten verantwortlich ist. Kloss betonte u.a. die Notwendigkeit eines gemeinsamen Engagements von Christinnen und Christen verschiedener Kirchen für das Gemeinwohl, da eine solche Zusammenarbeit für die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses in der Welt von heute von größter Bedeutung sei. Die beiden Bischöfe unterstrichen die Bedeutung des "We Choose Abundant Life"-Dokuments. Solche Initiativen müssten unbedingt gefördert werden, zeigte sich Freistetter überzeugt. Sie gäben Hoffnung und eröffneten Zukunftsperspektiven.

Es brauche für den Nahen Osten ein neues Modell von Staatsbürgerschaft, ebenso notwendig seien Kirchenreformen, vor allem im Blick auf Frauen und die Jugend, so Weihbischof Bentz, der auf einige weitere Aspekte des Dokuments einging. Die Christinnen und Christen im Nahen Osten und im Westen müssten zudem ihr Bewusstsein dafür schärfen, dass sie alle Teil einer weltweiten Kirche seien.

Die Delegation der Nahost-Theologinnen und Theologen umfasst neben Prof. Hachem u.a. den orthodoxen libanesisch-deutschen Theologen Prof. Assaad Elias Kattan von der Universität Münster, den evangelisch-lutherischen palästinensischen Pastor und Theologen Prof. Mitri Raheb, Gründer and Präsident der Dar al-Kalima Universität in Bethlehem, den Politikwissenschaftler Ziad el-Sayegh, Direktor des "Civic Influence Hub" im Libanon, sowie weitere Theologinnen und Theologen aus Ägypten und Jordanien, die allesamt zur "We Choose Abundant Life"-Gruppe gehören.

Aus Österreich nahmen u.a. die Sozialethikerin Prof. Ingeborg Gabriel, der Grazer Patristiker und Ökumeniker Prof. Pablo Argarate, der Linzer systematische Theologe Andreas Telser, die Wiener Religionswissenschaftlerin Anna Hager sowie die Leiterin der Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission, Anja Appel, an der Tagung teil. Aus dem PRO ORIENTE-Generalsekretariat nahmen neben Präsident Kloss Finanzvorstand Gordian Gudenus, Generalsekretär Bernd Mussinghoff und die für das Projekt federführend verantwortliche Referentin Viola Raheb teil.

Gestaltende Kraft der Kirchen

Prof. Gabriel bedauerte in ihren Ausführungen u.a. einen gewissen Stillstand in der Ökumene, der Anfang der 2000er Jahre auf zuvor bemerkenswert positive Entwicklungen in den 1980er und 1990er Jahren gefolgt sei. Die Notwendigkeit der Ökumene sei vielfach nicht bewusst. Die globalisierte Welt brauche aber dringend die gestaltende Kraft der Kirchen, zeigte sich Gabriel überzeugt. Das betreffe etwa auch die Frauenfrage bzw. Fragen der Geschlechtergerechtigkeit.

Die globalen Entwicklungen bedürften zudem auch einer Art institutionalisierter globaler Autorität. Die aktuelle Entwicklung deute leider in die entgegengesetzte Richtung, bedauerte Gabriel. Umso mehr sei es Aufgabe der Kirchen, sich für eine solche Autorität stark zu machen. Schließlich plädierte die Sozialethikerin im Blick auf den weltweiten Synodalen Prozess eindringlich, mehr auf die Jugend zu hören. "Lasst uns von den Jugendlichen lernen", so Gabriel.

Zentrale Bedeutung der Ethik

Der libanesische Politikwissenschaftler Ziad el-Sayegh betonte in seinem Vortrag die zentrale Bedeutung der Ethik. Die Kirchen hätten hier eine unbestrittene Kompetenz. Sie seien aufgefordert, Kriterien für die ethische Verantwortbarkeit politischen Handelns in ökumenischer Zusammenarbeit gemeinsam zu entwickeln und in den öffentlichen Diskurs einzubringen. In diesem Bereich seien die Kirchen für die Politik ein sehr wichtiger Partner. Mit Blick auf das Verhältnis von Pluralität und Einheit auch innerhalb der einzelnen Kirchen plädierte er für einen Ansatz, mit dem eine größere Diversität gestärkt wird, ohne als Bedrohung für die Einheit zu wirken oder empfunden zu werden. Mit Blick auf das Gemeinwohl lud er die Kirchen ein, gemeinsam darüber nachzudenken, für welche Art von Gemeinwohl sie sich einsetzen wollten. Es sei an der Zeit, neu zu definieren, was unter Gemeinwohl heute verstanden werde.

Hoffnung auf Nachahmer

Für den Linzer Theologen Andreas Telser ist das "We Choose Abundant Life"-Dokument eine großartige theologische Leistung. Er hoffe sehr, dass dieser Prozess der Erarbeitung und Rezeption auf viele Nachahmer in verschiedenen Ländern und Kontexten stoßen werde. Wiewohl der gesellschaftspolitische Kontext Österreichs ein ganz anderer als jener des Nahen Ostens sei, gebe es im Dokument durchaus auch für Österreich relevante Ansätze, etwa im Blick auf Frauen, die Jugend oder Entscheidungsprozesse in der Kirche. Diese kirchlichen Fragen würden freilich im österreichischen Kontext vor dem gesellschaftlichen Hintergrund eines stabilen demokratischen Staates und einer entsprechenden Öffentlichkeit behandelt. Demokratie und Öffentlichkeit würden als selbstverständlich vorausgesetzt, und seien deshalb auch kaum Gegenstände einer expliziten Reflexion durch Theologie und Kirche.

Kooperation mit "We Choose Abundant Life"-Gruppe

PRO ORIENTE und die "We Choose Abundant Life"-Gruppe arbeiten im Rahmen von Nahost-Jugendworkshops seit März 2022 intensiv zusammen. Im September 2021 veröffentlichte die "We Choose Abundant Life"-Gruppe ihr gleichnamiges Dokument, in dem die Theologinnen und Theologen zu einer umfassenden Erneuerung des kirchlichen und politischen Lebens im Nahen Osten aufrufen. Sie plädieren für Gerechtigkeit und Solidarität und räumen zugleich mit falschen Vorstellungen über die Situation der Christinnen und Christen im Nahen Osten auf. Es würde zu oft deren Leiden auf übertriebene Art und die Theorie der systematischen Verfolgung durch die Muslime falsch dargestellt, heißt es in dem Dokument, das den Titel "Wir wählen das Leben in Fülle – Christen im Nahen Osten: für eine Erneuerung der theologischen, sozialen und politischen Entscheidungen" (Original: "We choose abundant life") trägt. Das Dokument stellt einen systematischen Versuch dar, die gegenwärtige Situation der christlichen Gemeinschaften im arabisch-nahöstlichen Kontext eingehend kontextuell zu analysieren und vor diesem Hintergrund Handlungsempfehlungen zu formulieren.