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Naher Osten: Es braucht mehr Frauen in Führungspositionen in Kirche und Gesellschaft

Neue Ausgabe des PRO ORIENTE-Magazins stellt Christinnen und Christen des Nahen Ostens in den Fokus

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Für mehr Frauen in Führungspositionen in Kirche und Gesellschaft hat sich die Theologin und frühere Generalsekretärin des Nahost-Kirchenrats ("Middle East Council of Churches"/MECC), Souraya Bechealany, ausgesprochen. Im Interview in der aktuellen Ausgabe des PRO ORIENTE-Magazins bilanzierte Bechealany ihre bisherigen Erfahrungen als MECC-Generalsekretärin wie auch den bisherigen Verlauf des Synodalen Prozesses im Nahen Osten. Die neue Ausgabe ist ganz den Christinnen und Christen des Nahen Ostens gewidmet.

Bechealany war die erste Frau, die das Amt der Generalsekretärin des Nahost-Kirchenrats innehatte. In dieser Position habe sie die wunderbare Gelegenheit gehabt, mit leitenden Kirchenoberhäuptern, Laien und Jugendlichen zusammenzuarbeiten. "Es war wunderbar, ihre Erfahrungen und Herausforderungen hautnah mitzuerleben", so Bechealany. Gleichzeitig habe sie erfahren, "dass Frauen Führungspersönlichkeit und Entscheidungsträgerin in der Kirche sein können, wenn sie nur an ihr Charisma und ihre besondere Berufung glauben". Nachsatz: "Um etwas zu bewirken, müssen wir große Träume haben, große Pläne schmieden, aber auch mit Geduld und Zuversicht gemeinsam, Schritt für Schritt, vorankommen."

Auf ihre Arbeit als Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses für die "Sondersynode der Frauen" der Maronitischen Kirche angesprochen, hob Bechealany drei zentrale Punkte hervor: Man müsse "die Frau in diese Reise einbeziehen; den Kairos nutzen, sie von dieser Reise überzeugen". Zweitens sei es wichtig, die Bischofssynode einzuladen, "unsere Vision zu teilen: gemeinsam als ein Volk Gottes voranzugehen". Und drittens gelte es, den Frauen zu helfen, Führungspositionen in der Kirche und in der Gesellschaft zu erreichen.

Prof. Souraya Bechealany, Direktorin des Forschungszentrums der Fakultät für Religionswissenschaften an der Universität St. Joseph in Beirut, gehört u.a. auch zu den Autorinnen des Dokuments "We choose abundant life" (Wir wählen ein Leben in Fülle), das im Herbst 2021 von einem Team von Theologinnen und Theologen und weiteren Fachleuten aus verschiedenen Kirchen des Nahen Ostens erarbeitet und veröffentlicht wurde. Ihr sei es bei der Arbeit an dem Dokument auch darum gegangen, Themen anzusprechen, "die manche als unangemessen für eine öffentliche Diskussion betrachten".

Warnung vor "Minderheitenmentalität"

Der katholische Priester Rifaat Bader, Leiter des "Catholic Center for Studies and Media" in Amman (Jordanien), benannte in seinem Magazin-Beitrag einige Punkte, die aus seiner Sicht für die gemeinsame Zukunft von Christinnen und Christen in der Region zentral sind. "Die Christinnen und Christen (...) sind Minderheiten. Das sollte uns jedoch nicht davon abhalten, uns aktiv in unseren Gesellschaften einzusetzen und einen Beitrag zur Entwicklung dieser Gesellschaften zu leisten", scheibt Bader. Die Falle, sich als Minderheit zu begreifen, sei schmerzlich und tödlich, da sie zu einer "Minderheitenmentalität" führe, die Angst vor der Zukunft schüre, das gesellschaftliche Engagement verhindere und letztlich zur Auswanderung führe, warnte der Geistliche.

Ohne Einheit und ökumenische Zusammenarbeit werde es zudem für die Christinnen und Christen im Nahen Osten weder ein gemeinsames Zeugnis noch eine zukünftige Präsenz geben, zeigte sich Bader überzeugt. Und auch diejenigen, die inzwischen im Ausland leben und ein integraler Bestandteil ihrer neuen Gesellschaften geworden sind, blieben weiterhin ein untrennbarer Bestandteil der Gemeinschaften im Orient. "Wir müssen das Gespräch, die Verbindung zu ihnen und die Kooperation mit ihnen stärken und ausbauen", so Bader. Er mahnte zudem dringend die Stärkung staatsbürgerschaftlicher Werte und die Etablierung der Religionsfreiheit als Grundrecht in den Nahost-Staaten ein. Und er zeigte sich überzeugt: "Das Überleben der Christinnen und Christen des Nahen Ostens ist die einzige Garantie für ihre Geschwister in einer auf staatsbürgerschaftliche und zivilisierte Grundpfeiler gebauten Gesellschaft, in der die Freiheiten geachtet werden und nach moderner demokratischer Weise gearbeitet wird.

Bader weiter: "Als Christinnen und Christen im Osten sind wir herausgefordert, uns zur Förderung von Begegnung und Geschwisterlichkeit in den Medien einsetzen, und gleichzeitig Hassreden zu bekämpfen, die leider in unseren Gesellschaften und Medien präsent sind."

Vielfalt darf nicht zerstört werden

PRO ORIENTE-Kommunikations- und Projektreferentin Viola Raheb wies in ihrem Beitrag darauf hin, dass das Leben in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens seit Jahrzehnten von gewaltsamen Konflikten, lang anhaltender Gewalt, Flucht und Vertreibung, Traumata und humanitärer Not geprägt ist. In den letzten Jahren seien noch die COVID-19-Pandemie und jüngst der Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen hinzugekommen. Die sozio-politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in den Ländern brächten neue Gefahren für alle in den Ländern lebenden Gemeinschaften. In dieser Region drohe als größte Gefahr, "dass die kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt, die die Region über Jahrhunderte prägte, als Ganzes zerstört wird". Die Anzahl der Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten in den Ländern habe in den letzten Jahren vor allem durch Vertreibung, Flucht und Auswanderung sehr stark abgenommen, was auch die christlichen Gemeinschaften betreffe, warnte Raheb.

Die aktuellen Herausforderungen in den meisten dieser Länder würden Bereiche betreffen, die u.a. das Verhältnis von Staat und Religion berührten. Raheb: "Es geht um den Aufbau von zivilen Staaten, um Verfassungen und Rechtssysteme, die die Bürgerrechte und Menschenwürde aller wahren. Wichtig wären zeitgemäße Personenstandesgesetze, die die Rechte insbesondere von Frauen schützen."

"Es fehlt ein Leben in Würde"

Die nordafrikanischen und nahöstlichen Gesellschaften seien zudem junge Gesellschaften. Nach Angaben der Weltbank machten junge Menschen (unter 35 Jahren) knapp zwei Drittel der Bevölkerung aus. Gerade dieser Altersgruppe fehle es an Möglichkeiten, Zugängen und Perspektiven in den Bereichen Bildung, medizinischer Versorgung, Arbeit und vor allem: "Es fehlt ein Leben in Würde."

Raheb machte auf zwei zuletzt erschienene Dokumente aufmerksam, die sich mit der Krise in Nahost beschäftigen und Perspektiven aufzeigen: Bereits in dem Dokument "Vom Nil bis zum Euphrat: Eine Erklärung zu christlicher Verantwortung und staatsbürgerschaftlichem Recht", das 2014 von der Initiative Christliches Akademisches Forum für Staatsbürgerschaftsrechte in der arabischen Welt publiziert wurde, luden die Verfasserinnen und Verfasser alle anderen religiösen, ethnischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gruppen in den unterschiedlichen Ländern des Nahen Ostens ein, sich gemeinsam für eine neue dynamische, vielfältige und Menschen achtende gesellschaftliche sowie politische Struktur zu engagieren. "Die Verfasserinnen und Verfasser glauben an die Kraft einer gesellschaftlichen Transformation, die auf Dialog und Engagement aufbaut", so Raheb.

Das zweite von Raheb erwähnte Dokument ist jenes, an dem auch Prof. Souraya Bechealany mitgewirkt hat: "We choose abundant life" (Wir wählen ein Leben in Fülle) aus dem Jahr 2021. Mit beiden Dokumenten sei ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden, "der Christinnen und Christen in den Ländern als aktive Mitgestalter einer gewaltfreien gesellschaftlichen Transformation ihrer eigenen Gesellschaften sieht", so Raheb.

"Räume der Begegnung und des Austausches"

Prof. Gabriel Hachem zieht in seinem Beitrag eine erste Zwischenbilanz der Jugendworkshops, die PRO ORIENTE seit einigen Monaten gemeinsam mit der "We choose abundant life"-Gruppe im Nahen Osten durchführt. In mehrtägigen Workshops befassten sich junge Menschen mit dem synodalen Prozess, zu dem Papst Franziskus eingeladen hat, sowie mit dem "We choose abundant life"-Dokument. Hachem benennt zentrale Herausforderungen für die jungen Christinnen und Christen, die bereits deutlich wurden: Er ortet eine "geringe Beachtung der Stimme junger Menschen aus den Ländern des Nahen Ostens, sowohl in den Kirchen als auch in der Gesellschaft". Zweitens fehlten Visionen für die Zukunft der Jugendlichen, ihrer Kirchen und ihrer Heimatländer.

Drittens gebe es mangelnde theologische und ökumenische Kenntnisse unter der jungen Menschen. Hachem: "Dies unterstreicht die Notwendigkeit, Räume der Begegnung und des Austausches zwischen den jungen Menschen aus den verschiedenen Kirchen zu schaffen." Hachem ist Professor für Ekklesiologie und Ökumene an der Päpstlichen Fakultät für Theologie an der Heilig-Geist-Universität in Kaslik im Libanon.

PRO ORIENTE-Jugendworkshops fanden bereits im Libanon, in Jordanien, in Palästina und im Irak statt. Weitere Workshops finden im September für junge Christinnen und Christen aus Israel und aus Ägypten statt.