Pro Oriente
News / Expertin: Armenien ist in Bedrängnis und der Westen schaut weg

Expertin: Armenien ist in Bedrängnis und der Westen schaut weg

Salzburger Armenologin Dum-Tragut berichtet in aktuellem PRO ORIENTE-Magazin über die angespannte Lage in Armenien: "Man vermutet weitere Aggression Aserbaidschans, etwa einen Blitzangriff in der Provinz Syunik"

POI 240925

Wien, 25.09.24 (poi) Mehr Verständnis für die extrem schwierige Situation der Armenier hat die Salzburger Armenologin Jasmin Dum-Tragut eingemahnt. In einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe des PRO ORIENTE-Magazins berichtet sie über die aktuelle Situation in Armenien nach dem Ende armenischer Präsenz in Berg-Karabach. Mit Jahresbeginn 2024 wurde die international nicht anerkannte "Republik Artsach" in Berg-Karabach offiziell aufgelöst, nachdem ihr Territorium zuvor im September 2023 vollständig von Aserbaidschan erobert wurde. Die gesamte armenische Bevölkerung, mehr als 100.000 Menschen, musste damals Berg-Karabach verlassen.

Abgesehen von Spannungen durch die ungeklärte Situation der 100.000 Vertriebenen sei Gereiztheit in ganz Armenien zu spüren, so Dum-Tragut: "Man vermutet weitere Aggression Aserbaidschans, etwa einen Blitzangriff in der Provinz Syunik." Innerhalb von wenigen Stunden könnte der Süden Armeniens in aserbaidschanische Hände geraten. Dazu müsste nur die einzig befahrbare Straße in der Provinz Vayots Dzor blockiert werden. Die Menschen lebten in ständiger Angst und Ungewissheit, "aber auch in stetigem Zorn und in anklagender Resignation, dass dies alles vor den Augen des 'Westens' passiert, und bislang niemand etwas Wirksames getan hat, um Aserbaidschan zu stoppen".

Armenien fühle sich durch das Näherrücken aserbaidschanischer Truppen an und sogar über die Grenzen Armeniens bedroht. Seit 2021 versetzten Grenzscharmützel und Angriffe auf armenisches Staatsgebiet die Bevölkerung in Angst. Seit Mai 2024 komme es zu massiven innenpolitischen Unruhen, ausgelöst durch neue Grenzziehungen und Gebietsabtretungen in Nordarmenien zugunsten von Friedensverhandlungen, "deren Erfolgsaussichten zumindest fraglich sind".

Dazu kämen noch "die gezielte Zerstörung verwaisten armenischen Kulturguts in Artsach, um die Geschichte dem politischen Willen gemäß zu fälschen und dabei jegliche Spuren armenisch-christlicher Besiedlung zu löschen". Bedrückend und auch unverständlich sei, "dass dies alles vor den Augen der internationalen Gemeinschaft und beobachtet durch zahlreiche Satelliten passiert, doch in unserer westlichen Welt kaum wahrgenommen wird", schreibt Dum-Tragut.

Die Expertin ist regelmäßig vor Ort in Armenien. Im PRO ORIENTE-Magazin berichtete sie von ihrem jüngsten Besuch: "In den letzten Wochen war ich im Norden, in Tavusch, um das nahe an der aserbaidschanischen Grenze liegende armenische Kulturerbe zu dokumentieren. Hier wird eine neue Straße gebaut, denn die jetzige führt vorbei an minenbestücktem Niemandsland und streckenweise über aserbaidschanisches Staatsgebiet. Ein mulmiges Gefühl stellt sich ein - ebenso wie bei der Forschungsarbeit in den Grenzdörfern, wenn ich spüre, wie man mich aus den mit freiem Auge sichtbaren aserbaidschanischen Stellungen heraus beobachtet."

Ein Kloster liege genau auf der Grenzlinie: Choranaschat, architektonisches Juwel und bedeutendes theologisches Zentrum und Skriptorium aus dem 13. Jahrhundert. "Um es zu erreichen, muss ich die Genehmigung der Diözese und des lokalen militärischen Befehlshabers einholen, um dann mit Vater Aram, dem Dorfpriester, und Soldaten durch Schützengräben hindurch zum Kloster zu gelangen". Der Aufenthalt habe aus Sicherheitsgründen nur eine halbe Stunde gedauert.

Dum-Tragut: "Werde ich morgen noch eine Kerze in den steinernen Gewölben anzünden und mit Vater Aram gemeinsam ein Gebet sprechen können? Erst dann begreife ich, was in den Herzen der christlichen Armenier vorgehen mag, angesichts ihrer unsicheren Gegenwart und bedrohten Zukunft, wenn sogar die Spuren der Vergangenheit ausgelöscht werden und eventuell nichts mehr zurückbleiben könnte von diesem christlichen Landstrich - außer alten Fotos und Erinnerungen."

Das aktuelle PRO ORIENTE-Magazin steht unter dem Generalthema "Orientalische Kirchen in Bedrängnis". Neben der Situation in Armenien und Berg-Karabach beschäftigen sich weitere Beiträge mit der Situation christlicher Kirchen in Indien und Äthiopien. Eingeleitet wird das Thema durch einen geistlichen Impuls aus der Koptisch-orthodoxen Kirche.

Infos: https://www.pro-oriente.at/publikationen/magazin