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Orient-Expertin Raheb: Christliche Vielfalt und Präsenz im Nahen Osten stark gefährdet

PRO ORIENTE-Mitarbeiterin bei Vortrag in Wien: Besorgniserregende demografische Entwicklungen - Plädoyer für zivile Staaten auf Basis von staatsbürgerschaftlichen Rechten, Menschenrechten und dem Gleichheitsprinzip

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Vielfalt und Zusammenarbeit unter den Kirchen gehören seit jeher zum Wesen des orientalischen Christentums und sind auch eine immerwährende Aufgabe und Herausforderung. Das hat die PRO ORIENTE-Expertin Viola Raheb dieser Tage bei einem Vortrag in Wien betont, zu dem die "Vernetzte Ökumene Wien-West" eingeladen hatte. Das die westlichen Wiener Gemeindebezirke umfassende ökumenische Netzwerk war im Jahr 2005 von Elisabeth Lutter initiiert worden.

Die christliche Präsenz in den Ländern des Nahen Osten sei von Anfang an von Vielfalt gekennzeichnet gewesen, so Raheb in ihrem Vortrag. Die ökumenische Dimension des christlichen Lebens in den Ländern des Orients sei deshalb für diese Länder nicht nur ein wichtiges Kennzeichen, sondern mehr noch die Basis der Existenz des Christentums vor Ort. Viola Raheb ist bei PRO ORIENTE für Wissenschaftskommunikation und Projekte zuständig.

Raheb berichtete von besorgniserregenden demografischen Veränderungen im Nahen Osten. So würden die Christinnen und Christen laut Schätzungen von 2019/20 nur mehr 5 Prozent der Gesamtbevölkerung in der sogenannten MENA-Region (Nahost und Nordafrika) ausmachen. Prognosen zufolge würde dieser Wert bis 2050 sogar auf 4 Prozent zurückgehen.

Migration sei ein Teil der Geschichte und Gegenwart der Region und ihrer Bevölkerung und damit auch des Christentums. Auswanderung sei demnach kein neues Phänomen, erinnerte Raheb. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts habe es große Migrationsbewegungen gegeben, etwa nach Lateinamerika. Schon damals habe es sich um eine Mischung aus politischen, religiösen und ökonomischen Gründen gehandelt, heute sei das nicht anders. Den wenigen verbliebenen Christinnen und Christen im Nahen Osten stünden inzwischen große Diaspora-Gemeinden in Lateinamerika, Nordamerika, Europa und Australien gegenüber.

Das Ausmaß der Migration sei freilich alarmierend für das Fortbestehen des Christentums im Orient, "insbesondere, wenn wir über Palästina, den Irak oder Syrien sprechen", so Raheb, die selbst aus einer alteingesessenen christlichen Familie in Bethlehem stammt.

Raheb berichtete zudem, dass es in den Golfstaaten eine neue christliche Präsenz mit Millionen von Gläubigen gibt. Dabei handle es sich um einen völlig anderen Kontext, denn diese Christinnen und Christen gehörten nicht der einheimischen Bevölkerung an, sondern es handle sich um meist ausgebeutete Arbeitsmigrantinnen und -migranten.

Die einzige zukunftsträchtige Perspektive für die Christinnen und Christen im Nahen Osten sah Raheb in einer aktiven Beteiligung am öffentlichen Leben und im Einsatz für einen zivilen Staat, der auf Basis von staatsbürgerschaftlichen Rechten, Menschenrechten und dem Gleichheitsprinzip geführt wird. Sie hob zudem die überproportional hohe Bedeutung christlicher Bildungseinrichtungen im gesamten Nahen Osten hervor, ebenso auch im sozialen, humanitären oder medizinischen Bereich.

Raheb stellte in diesem Zusammenhang das Dokument "We choose abundant life" vor, vom dem eine Reihe neuer Impulse für das orientalische Christentum ausgehen. Das Dokument stellt einen systematischen Versuch dar, die gegenwärtige Situation der christlichen Gemeinschaften im arabisch-nahöstlichen Kontext eingehend zu betrachten. Es wurde von Theologinnen und Theologen verschiedener Konfessionen und Länder erarbeitet (Infos: https://www.wechooseabundantli...).

Auf großes Interesse stieß bei Rahebs Vortrag auch das neue PRO ORIENTE-Projekt der Ökumenischen Jugendworkshops im Nahen Osten. Bei den Workshops, die gemeinsam mit der "We choose abundant life"-Gruppe veranstaltet werden, sollen Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen Kirchen und Ländern Möglichkeiten eines verstärkten kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Engagements junger Menschen in ihren Heimatländern erarbeiten. Zwei Workshops fanden bereits statt, vier weitere folgen noch. Zudem sollen einige der Jugendlichen, die an den Workshops teilgenommen haben, an zwei internationalen Konferenzen über Synodalität im November in Rom teilnehmen, um die Erfahrungen und Wünsche der Jugend in die Diskussion mit einzubringen.

Im Jahr 2023 ist ein regionaler Trainingsworkshop in Wien geplant, wo eine Vernetzung und ein Erfahrungsaustausch zwischen den Jugendlichen aus den verschiedenen Ländern des Nahen Ostens erfolgen soll.