Theologin: Christentum hat die Kraft, Konflikte und Spaltungen zu überwinden
22. September 2025
Das Christentum hat die Kraft, auch tief sitzende Konflikte, Verwundungen und Spaltungen zwischen Völkern, Nationen oder auch Religionsgemeinschaften und Kirchen zu überwinden. Davon hat sich die libanesische maronitische Theologin Prof. Souraya Bechealany überzeugt gezeigt. Sie nahm im März 2025 an einem PRO ORIENTE-Workshop in der litauischen Hauptstadt Vilnius teil, der Theologinnen und Theologen aus ganz Osteuropa an einen Tisch brachte. Der Workshop war Teil des Projekts "Healing of Wounded Memories" (Verletzte Erinnerungen heilen). Der Ukraine-Krieg war dabei ein wesentliches Thema der Gespräche, Vorträge und Diskussionen. In einem aktuellen Beitrag für den PRO ORIENTE-Blog hat Bechealany zentrale Erkenntnisse des Workshops aus ihrer Sicht zusammengefasst.
Viele Probleme und Herausforderungen, die für Osteuropa gelten, ließen sich auch auf den Nahen Osten übertragen und vice versa, so Bechealany. Es gelte, sich der Gefahren, die von tiefen gesellschaftlichen Verwundungen und verletzten Erinnerungen ausgehen, bewusst zu sein. Solche Wunden "lenken den Geist und die Gemeinschaften. Sie stellen Gemeinschaften gegen Gemeinschaften, Religionen gegen Religionen, Konfessionen gegen Konfessionen, Ideologien gegen Ideologien, Ethnien gegen Ethnien." Wunden seien "ein Instrument der Mobilisierung, ein Alibi, um andere zu verletzen."
Bechealany sprach von einer "Subjektivierung der Wahrheit" und einer daraus folgenden "Pluralität von Narrativen". Dies würde jeden Versuch eines Dialogs verhindern und zu Polarisierungen führen. Solche Polarisierungen wiederum ließen sich nicht einfach durch Gegennarrative überwinden.
Bechealany zeigte sich vielmehr überzeugt: "Wir sind aufgerufen, über Gegen- oder Alternativ-Narrative hinauszugehen, die Polarisierungen festigen könnten. Als Christinnen und Christen sind wir aufgerufen, gemeinsam eine höhere Ebene, einen neuen Raum zu schaffen, der die spannungsgeladenen Polaritäten umfasst! Dieser neue Raum wird vom Herrn und seinem Heiligen Geist in einem synodalen Prozess inspiriert sein." Denn, so Bechealany weiter: "Die Wahrheit ist weder ein Konzept noch ein Ideal. Die Wahrheit ist Jesus Christus selbst. Wir sind aufgerufen, mit ihm in einen synodalen Prozess zu gehen, durch das Gebet des Herzens, das uns dabei helfen kann."
Und die maronitische Theologin fügt hinzu: "Wir sind auch aufgerufen, mit Jesus Christus durch die Eucharistie zu gehen, den Weg der Vergebung und Heilung. Dort feiern wir gemeinsam das Gedächtnis, das verwundete Erinnerungen heilt, polarisierte Menschen umarmt, Gemeinschaften und Kirchen heilt."
Bechealany geht in ihren Ausführungen auch auf Beiträge in Vilnius ein, in denen von kirchlichen Hierarchen die Rede war, die dem eigentlichen christlichen Anspruch nicht gerecht werden. Die Theologin hob in diesem Zusammenhang die Bedeutung von "Gegenzeugnissen" auf lokaler Ebene hervor: "Es ist die Stärke lokaler Gemeinschaften, die sich zusammenschließen, gemeinsam handeln und gemeinsam Zeugnis ablegen." In Vilnius seien mehrere Beispiele genannt worden, die diese lokale ökumenische Realität veranschaulichen: "die Priester, die Pfarreien zusammenführen, die Brautpaare unterschiedlicher Konfessionen, die erfolgreich gemeinsam Familien gründen, usw. Das ist die lebendige Kirche, die lokale und eucharistische Kirche!"
Prof. Bechealany lehrt an der St.-Josef-Universität in Beirut Ekklesiologie und Ökumenische Theologie und war früher Generalsekretärin des Nahost-Kirchenrates (MECC).
Das Projekt "Healing of Wounded Memories" (Verletzte Erinnerungen heilen) hat im November 2023 mit einer internationalen Konferenz in Wien seinen Anfang genommen. Rund 50 Teilnehmende aus Europa, den USA und dem Nahen Osten hatten dabei Aspekte einer Theologie der Versöhnung reflektiert, zugleich aber auch konkrete geopolitische Konfliktfelder in der Ukraine, in Südosteuropa und im Nahen Osten in den Blick genommen. Die Themen der Auftaktkonferenz wurden in regionalen Workshops in Bosnien-Herzegowina (Mai 2024), Zypern (Oktober 2024) und Vilnius (März 2025) vertieft.
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