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Theologin Raheb über Christen in Nahost: "Mehr in Menschen als in Steine investieren"

Evangelische Theologin und PRO ORIENTE-Referentin im Radio Vatikan-Interview über Gründe für Auswanderung junger Christinnen und Christen aus dem Nahen Osten und was dagegen getan werden kann

POI 250423

Foto: abouna.org

Nikosia/Rom, 25.04.23 (poi) Jüngere Christen in Nahost wünschen sich grundsätzlich, in ihren Ländern bleiben zu können. Wer sie dabei unterstützen will, sollte "mehr in Menschen als in Steine investieren". Das hat die österreichisch-palästinensische Theologin und PRO ORIENTE-Mitarbeiterin Viola Raheb im Interview mit Radio Vatikan betont. Sie äußerte sich zum Abschluss einer internationalen Tagung in Zypern.

Rund 300 Vertreterinnen und Vertreter der katholischen Kirchen im Nahen Osten - Patriarchen, Bischöfe, Ordensobere und Ordensleute, aber auch Mitglieder von Vereinigungen und Bewegungen - waren vergangene Woche in Nikosia zusammengekommen, um aktuelle Herausforderungen und Zukunftsperspektiven für die Kirchen im Nahen Osten zu beraten. Die Konferenz fand anlässlich des 10-Jahr-Jubiläums des nachsynodalen Apostolischen Schreibens "Ecclesia in Medio Oriente" (Kirche im Nahen Osten) statt. Veranstalter der Tagung war das vatikanische Dikasterium für die Orientalischen Kirchen.

Papst Benedikt XVI. (2005-2013) hatte am 16. September 2012 im Rahmen seiner Libanon-Reise in Beirut den Kirchenführern der Region das Abschlussdokument der Bischofssynode über den Nahen Osten überreicht. In das rund 100 Seiten umfassende Dokument waren die Ergebnisse der Bischofssynode über den Nahen Osten eingeflossen, die im Oktober 2010 im Vatikan getagt hatte. Benedikt XVI. forderte in dem Schreiben unter anderem vollständige Religionsfreiheit für die Christen im Nahen Osten. Zudem rief er zu einer Vertiefung des ökumenischen und interreligiösen Dialogs auf.

Bei der Konferenz sei viel von der massenhaften Emigration junger Leute aus den Ländern der Region die Rede gewesen, so Viola Raheb gegenüber Radio Vatikan: "Ich glaube, wir wären gut beraten, wenn wir darüber nachdenken, warum diese jungen Leute auswandern. Sie wandern nicht aus, weil sie in ihren Kirchen nicht verwurzelt sind oder in ihren Ländern nicht verwurzelt sind. Sie wandern aus, weil es keine Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben gibt."

Sie selbst habe in den vergangenen Jahren viel mit jungen Christen und Christinnen aus diesen Ländern gearbeitet, berichtete Raheb über ihre Erfahrungen im Rahmen der PRO ORIENTE-Jugendworkshops im gesamten Nahen Osten. "Alle wollen in ihren Ländern bleiben und alle wünschen sich, dass die Kirchen mehr in Menschen als in Steine investieren. Es bedarf wenig, um diese Leute zu ermutigen, im Land zu bleiben, und es beginnt damit, sie wahrzunehmen, sie ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören und ihnen einen Raum zu geben, um mit ihnen aktiv das Leben der Kirchen zu entwickeln, zu bewegen, zu befruchten."

Wie Raheb sagte, sei die Konferenz auf Zypern für den Austausch der verschiedenen Kirchen und Länder wichtig gewesen, in denen Christen und Christinnen in Nahost leben - auch aus Russland und den USA. Allerdings: "Ich hätte mir gewünscht, dass mehr Frauen und mehr junge Leute an so einem Treffen teilnehmen. Denn das sind zwei Gruppen aus unseren Kirchen, die das kirchliche Leben tragen und für die Zukunft unserer Kirchen unerlässlich sind."

Ein schwerwiegendes Problem für die christlichen Gemeinden in Nahost ist aus Rahebs Sicht heute eine Art "Opfermentalität", die sich bei vielen breit gemacht habe. Die Theologin bedauerte, "dass viele Christen und Christinnen, aber auch viele in den Ämtern, in vielen Positionen, aufgrund der schweren andauernden Traumata, die wir durchleben, von Krieg, von Gewalt, von Vertreibung, Zerstörung und Emigration eine Haltung eingenommen haben, die in eine Opfermentalität sich zurückzieht. Die größte Herausforderung ist, wieder die innere Kraft zu finden, die in unserem Glauben verwurzelt ist, dass wir in dieser Region zum Glauben, zum Hoffen und zum Arbeiten aufgerufen sind und dass wir aktive Gestalter unseres Lebens sind."

Freiheiten und Rechte

Als eine der wenigen ökumenischen Teilnehmenden war Raheb eine von vier Expertinnen und Experten, die eingeladen waren, einen thematischen Vortrag beizusteuern. In ihrem Vortrag vor Ort sprach sie zum Thema "Freiheiten und Rechte. Zwischen Bekräftigungen, Ansprüchen und Praktiken". Raheb wies darauf hin, dass sich die Hoffnungen auf Demokratie, die vor rund zwölf Jahren mit dem Arabischen Frühling aufgekommen waren, praktisch verflüchtigt hätten. Immer mehr Menschen seien davon überzeugt, dass dieser demokratische Übergang verpasst wurde. Religiöser Fanatismus, die Verbreitung monolithischer religiöser Identitäten, die Einschränkung und Unterdrückung von Rechten und Freiheiten nähmen zu und stellten eine echte Bedrohung für Vielfalt und Pluralismus in der Region dar, warnte Raheb.

Auch die Präsenz der Christinnen und Christen in der Region habe sich verändert. "Wir haben verschiedene Gruppen, die unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen unterliegen: Während es weiterhin ein vielfältiges einheimisches Christentum in der Region gibt, gibt es ‚internationale‘ Christen, die in der Region leben und arbeiten, sowie eine wachsende Präsenz von christlichen Arbeitsmigranten, insbesondere in der Golfregion, und nicht zuletzt christliche Flüchtlinge aus Afrika und Südostasien."

Wie die Theologin weiter sagte, werde für eine gedeihliche gesellschaftliche und politische Zukunft in den Ländern des Nahen Ostens das Prinzip der "Staatsbürgerschaft" immer dringlicher. Sie verwies auf zwei Dokumente, in denen dieses Thema prominent aufgegriffen wurde: "From the Nile to the Euphrates - A Declaration on Christian Responsibility and the Law on Citizenship" aus dem Jahr 2014, von christlichen Akademikerinnen und Akademikern verfasst, sowie das 2021 veröffentlichte Dokument "We Choose Abundant Life", in dem Theologinnen und Theologen verschiedener Kirchen zu einer umfassenden Erneuerung des kirchlichen und politischen Lebens im Nahen Osten aufrufen.

Im Blick auf ihre Erfahrungen in den PRO ORIENTE-Jugendworkshops plädierte Raheb in ihrem Vortrag eindringlich dafür, dass die Kirchen ihre Sprache dringend ändern müssten, um die Jugend noch zu erreichen. Die größte Herausforderung hinsichtlich politischer Teilhabe, Gewissensfreiheit und Staatsbürgerschaft sei im Nahen Osten - und darüber hinaus - die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, so Raheb abschließend. Beteuerungen und schöne Worte würden nicht reichen, es brauche Taten.