Plädoyer für Allianzen der Friedensschaffenden
18. November 2025
PRO ORIENTE-Podiumsdiskussion an Wiener Diplomatischer Akademie über die Rolle der Religionen in von Kriegen und Konflikten zerrütteten Gesellschaften
Wien, 18.11.2025 (poi) Religionen und Kirchen nehmen in von Kriegen und Konflikten zerrütteten Gesellschaften eine zwiespältige Rolle ein: sie können Konflikte bestärken, aber auch zur Konflikt-Transformation und zur Versöhnung beitragen. Ausgehend von dieser Feststellung trugen Expertinnen und Experten am vergangenen Freitagabend (14. November) auf Einladung von PRO ORIENTE und der Diplomatischen Akademie Wien bei einer Podiumsdiskussion in der Akademie ihre Beiträge zum Thema "The Potential Constructive Role of Religion in Societies torn by Violence" vor.
Einig zeigten sich die Diskutanten darin, dass es ein verstärktes Engagement aus dem Glauben heraus brauche, um glaubhaft und nachhaltig Akzente zur Versöhnung und für den Frieden zu setzen, wie es der Gründer und Präsident der Dar al-Kalima-Universität in Bethlehem, Prof. Mitri Raheb, auf den Punkt brachte. Einigkeit bestand auch darin, dass Konflikte nicht nur Bewährungsfelder für die Kraft der Botschaft der Kirchen sind, sondern zugleich eine Chance für Veränderung innerhalb der Kirchen und Religionen, so die Religionssoziologin und Mitbegründerin der ukrainischen NGO "Dialogue in Action", Tetiana Kalenychenko, und die kroatische Theologin und Friedensaktivistin Ana-Marija Raffai übereinstimmend.
Eröffnet wurde die Podiumsdiskussion mit Grußworten der stellvertretenden Direktorin der Diplomatischen Akademie Wien, Martina Schubert, und von PRO ORIENTE-Präsident Clemens Koja. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Münsteraner Ostkirchen- und Ökumene-Expertin Prof. Regina Elsner.
Im ersten Kurzvortrag ging Ana-Marija Raffai auf die Rolle der Kirchen im Friedensprozess in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien ein. Sie hielt fest, dass kirchliche Institutionen, seien es katholische oder orthodoxe, bislang keine relevanten Rollen im Friedensprozess eingenommen hätten. "Ich vermisse eine klare Strategie und sichtbares Engagement der Kirchen in Richtung Vergebung und Versöhnung", so Raffai. Sie betonte, dass es ohne Versöhnung keinen Frieden geben könne. Der Versöhnungsprozess erfordere Mut, Selbstkritik und die Hinterfragung extremer nationalistischer Rhetorik. Wahrer Glaube sei untrennbar mit Risikobereitschaft verbunden. Hoffnung schöpfe sie aus jenen Initiativen bzw. von jenen Personen und Gruppen innerhalb der Kirchen, die dieses Wagnis eingehen. Sie ging dabei u.a. auf die Arbeit der Gruppe "Believers for Peace" ein, die mit Menschen verschiedener Glaubensrichtungen zusammenarbeitet, unabhängig von deren Überzeugungen, um von einem apologetischen Ansatz zu einem dialogischen Ansatz überzugehen.
Tetiana Kalenychenko betonte die Chancen, die Dialog- und Versöhnungsarbeit zwischen den Kirchen im Blick auf die Transformation der Kirchen selbst böten. Das zeigten die von "Dialogue in Action" initiierten Dialoge unter den christlichen Kirchen in der Ukraine. Im Kern gehe es darum, Räume der Begegnung auf Augenhöhe zu schaffen - sei es für innerorthodoxe, für ökumenische oder für interreligiöse Dialoge. Die beteiligten Institutionen würden dann zu Partnern, die die Zukunft nach dem Krieg mitgestalten. Die Theologie könne ein Raum dafür sein, sich vorzustellen, wie der zukünftige Frieden aussehen könnte. Die Arbeit, die heute von ukrainischen Vereinigungen geleistet werde, die sich mit Friedensstiftung befassen, erleichtere nicht nur Begegnungen zwischen Menschen, die mit verschiedenen politischen Seiten sympathisieren, sondern ermögliche ihnen auch, den Sinn des russisch-ukrainischen Krieges zu hinterfragen – einschließlich der Bedeutung der Tatsache, dass die Mehrheit der Kämpfenden derselben Religion und derselben Konfession angehören, nämlich dem orthodoxen Christentum.
Mitri Raheb wies zu Beginn seines Vortrags darauf hin, dass es nicht die Religionen seien, die bei der Frage nach Beiträgen zum Frieden eine Rolle spielten, sondern die Menschen, die diesen Religionen angehören. Diese könnten jedoch nicht auf ihre religiöse Identität allein reduziert werden, sondern verfügten auch über andere Aspekte ihrer Identität, die ebenfalls relevant seien. Darüber hinaus werde Gewalt oft als individuelles oder kollektives Phänomen betrachtet, wobei die durch Systeme geschaffene strukturelle Gewalt übersehen werde. Auch eine kirchliche Dialog- und Versöhnungsarbeit müsse dies berücksichtigen. Neben der Beachtung des jeweiligen Kontextes brauche es eine politische Vision des angestrebten Friedens. Bezüglich der Frage, welche Schritte auf dem Weg dorthin erfolgversprechend seien, unterstrich Raheb die Notwendigkeit, dass Kirchen wie auch einzelne Gläubige "von der Reaktion zur Aktion" kommen müssten, statt nur "Follower" zu sein.
Die Podiumsdiskussion fand im Rahmen der von PRO ORIENTE ausgerichteten internationalen ökumenischen Konferenz "Healing of Wounded Memories: The Responsibility of Churches to Heal" vom 13. bis 16. November in Wien statt. (Informationen zum Projekt "Healing of Wounded Memories": https://www.pro-oriente.at/projekte/healing-of-wounded-memories)